Studieren, gründen, leben: Sie kommen für ihr Studium, die Ausbildung oder den Job nach Wismar. Was junge Menschen bleiben lässt, sind das junge, studentische Leben, die Ostsee vor der Haustür, das Flair der Hansestadt und die Perspektiven, die sich hier bieten. Azubis und Gründerinnen und Gründer berichten, wie sie in Wismar Fuß fassen.
Text von Katharina Golze
Imposante Backsteinkirchen, restaurierte Giebelhäuser in engen Gassen, ein Marktplatz voller Leben in einer charmanten Altstadt. Weiter westlich erstreckt sich Wismars Hochschulcampus in modernster Architektur. Und hinten am Horizont lassen die hellblau leuchtenden MV-Werften, die kleinen Fischerboote und größeren „Pötte“ erahnen, was Wismar noch ausmacht: die Ostsee, der Hafen und die Fischbrötchen. Wer oben auf der 35 Meter hohen Aussichtsplattform der St.-Georgen-Kirche steht, sieht die Vielfalt und Schönheit Wismars auf einen Blick und versteht, warum die Stadt seit 2002 zum UNESCO-Welterbe zählt. Da ermittelt auch die „SOKO Wismar“ gern – seit 2004 bereits im ZDF.
Über die Autorin
Katharina Golze ist gebürtige Brandenburgerin und Volontärin bei der Schweriner Volkszeitung. Sie liebt es, am Alten Hafen mit einem Fischbrötchen zu spazieren, die kleinen Cafés und Vintage-Läden in Wismars Altstadt zu entdecken und die benachbarte Insel Poel mit dem Fahrrad zu umrunden.
Was junge Menschen in die Stadt lockt, sind das Studium, die Ausbildung oder der Job. Was sie bleiben lässt, sind das junge, studentische Leben samt Studentenclub „Block 17“, die kleinstädtische Gemütlichkeit und das Vereinsleben. Sein Lieblingsplatz sei der Hafen, sagt Janne Evers-Szabo. Der 19-Jährige ist Azubi beim Holzverarbeiter Egger. Hier wird er zum Industriemechaniker ausgebildet, in einem der größten und meistprämierten Ausbildungsbetriebe in und um Wismar.
Eine Lehrwerkstatt direkt am Meer
1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fertigen hier Laminatböden, Faser- und OSB-Platten. Täglich rollen 80 bis 100 Lkw aus ganz Europa auf das 90 Hektar große Betriebsgelände. Hier wird viel Know-how gebraucht. Industriemechaniker, Elektroniker für Betriebstechnik, Fachlageristen oder Maschinen- und Anlagenführer: Zehn verschiedene Ausbildungsberufe hat Egger im Repertoire. Aktuell lernen 43 Azubis, darunter vier Frauen sowie drei duale Studierende im Maschinenbau und kaufmännischen Bereich.
Manche ziehen von Bayern, Schleswig-Holstein oder den USA aus für die Lehre nach Wismar. Viele kommen aus der Region. So auch Janne Evers-Szabo. Ihm gefällt die Abwechslung in der Ausbildung und das Miteinander unter den Azubis. Gerade steht er in der Lehrwerkstatt, die nur wenige Meter von der Ostsee entfernt liegt.
Hier lernen die Lehrlinge mit der Dreh- und Fräsmaschine umzugehen, üben Schweißen oder erlernen die Grundlagen der Pneumatik, bevor es an die großen Maschinen geht. Die Grundlagenschulungen und Lehrgänge finden „inhouse“ statt. „Die Firma investiert viel in die Ausbildung“, sagt Ausbildungsleiter Mirko Gaitzsch.
Neben drei Vollzeitausbildern, Fahrgeld und kostenfreiem Mittagessen zählt der Elektrikermeister weitere Benefits auf: „Jeder bekommt ein Tablet auch für die private Nutzung. Wir bezahlen alle Schulbücher. Die Arbeitssachen werden hier gewaschen.“ Am begehrtesten ist aber die 14-tägige Fahrt ins Mutterwerk in St. Johann in Österreich – inklusive Hotel und Leihwagen. Eine attraktive Ausbildung ist grundlegend in Zeiten sinkender Bewerberzahlen. Umso mehr fördern Mirko Gaitzsch und seine zwei Kollegen die Azubis und bieten beispielsweise Mathenachhilfe an.
Wir gucken nicht nur auf die Noten. Man muss einfach Bock haben, etwas Neues zu lernen, und technisches Verständnis haben.
Mirko Gaitzsch, Ausbildungsleiter bei Egger
Seit 2020 lädt Egger die Bewerberinnen und Bewerber zu dreitägigen Probearbeiten ein. „Wir zeigen ihnen, worauf sie sich so einlassen“, so Gaitzsch. Aber auch erste Fertigkeiten wie Sägen und Feilen werden getestet. Praktikantinnen und Praktikanten bieten sie oft einen Lehrvertrag an. Und danach? Egger wirbt mit einer unbefristeten Übernahmegarantie sowie Weiterbildungen als Techniker oder Meister. Andere verschlägt es in die Start-up-Szene, wie Paul Sorsch.
Vom Elektriker bei Egger zum grünen Start-up-Gründer
Sensoren aus Biopolymeren, Gewinde aus verdichtetem Holz statt Aluminium, Industrieroboter aus nachwachsenden Rohstoffen. Gründer Paul Sorsch hat mit seinem Start-up „GreenDynamics“ eine Vision: die Produktion ökologisch nachhaltiger machen. Vor einem Jahr ist der 35-Jährige im Technologiezentrum (TGZ) Schwerin eingezogen – und mit ihm ein Kopf voller Ideen.
Begonnen hat Paul Sorsch seine Karriere bei Egger in Wismar. In der Schule war er auf das Ausbildungsangebot aufmerksam geworden und schnell überzeugt. 2003 begann er seine Lehre zum Elektriker für Betriebstechnik: zwei Wochen arbeiten, eine Woche Schule im Wechsel. „Geprägt hat mich die gute Ausbildung, die Ausbildungswerkstatt, überhaupt die Aufmerksamkeit, die bei Egger auf den Azubis liegt.“ Während es ihn nach der Lehre in die Welt zog, denkt er auch an Egger zurück: „Das genaue Arbeiten und die Disziplin haben mir immer wieder Vorteile verschafft.“
Nach Stationen in Österreich, der Schweiz, in Indien und China kehrte er für die Weiterbildung als staatlich geprüfter Techniker für Konstruktion und Produktentwicklung in seine Heimatstadt Schwerin zurück. Hier gründete er „GreenDynamics“. „Mit jedem Tag bin ich überzeugter von der Idee und habe mehr Know-how“, sagt er. Noch gäbe es keine nachhaltigen Maschinenbauteile. Daher entschied er: „Ich bin der Markt.“ Seine Zielgruppe: Hersteller grüner Produkte, wie die Lebensmittelindustrie. Und vielleicht wird auch Egger einmal sein Kunde – für nachhaltige Maschinen bei der Holzverarbeitung.
Ein Experimentierlabor für Start-ups
Gründen – das geht gut in Wismar. Wer den InnovationPort betritt, stolpert direkt aufs Pitch Deck. Ähnlich wie die ersten Schritte für Start-ups ist das Gründungszentrum am Alten Hafen aufgebaut: Pitchen, Netzwerken, Brainstormen, Wachsen. Für jede Etappe gibt es eigene Räume: Die Creativity Lounge für Teammeetings, ein Design Thinking Raum zum gemeinsamen Herumdenken und das Working Lab für konzentriertes Arbeiten. Hier tüfteln die vier jungen Männer von „matics“, einem der ersten Start-ups, die dank Stipendium ihr Büro im Port eingerichtet haben. Sie wollen den Amateur- und Jugendsport mit Herzfrequenz-, GPS- und optischem Tracking revolutionieren. „Die Leistungsdaten, die man im Profibereich kennt, überführen wir in den Jugend- und Amateursport“, erklärt Gründer Alexander Papazoglou, 27 Jahre jung und einstiger Wismarer Student. In der Hansestadt ist ihr Start-up gewachsen: erst am Robert-Schmidt-Institut, jetzt im neu eröffneten InnovationPort, einem von sechs Gründungszentren in MV.
Initiiert hat es Prof. Matthias Wißotzki, Wirtschaftsinformatiker an der Hochschule, selbst Gründer und jetzt Ansprechpartner für die Start-ups. „Wir sind ein Anlaufhafen für all diejenigen, die sich mit Technologie und Digitalisierung auseinandersetzen und sie nutzen wollen, um Alltagsprobleme zu lösen“, erklärt er. Ideen gäbe es viele, doch mangle es oft an der Umsetzung. Daher wollen er und sein Team beraten und unterstützen – sowohl junge Start-ups als auch regionale Unternehmen, die sich modernisieren wollen, sowie Ideen aus der Wissenschaft. Voneinanderlernen und Netzwerken wird hier großgeschrieben. Aktuell betreuen sie 48 Start-ups, hinzu kommen 55 Events rund um Digitalisierung.
„Eine richtige Start-up-Community gab es in Wismar bisher noch nicht“, sagt Prof. Matthias Wißotzki, Initiator des InnovationPort. Für „matics“ die perfekte Umgebung. „Kurze Wege, tolle Leute mit Expertise, ein entstehendes Gründernetzwerk“, findet Alexander Papazoglou. „Die Stadt ist wunderschön und alles zu Fuß erreichbar.“ So fragen mittlerweile auch Start-ups aus dem Süden Deutschlands an und wollen an die Küste ziehen. „Wir unterstützen alle, die eine Gründungsidee haben. Kostenlos“, sagt Wißotzki. „Schreibt uns an und wir sprechen über eure Idee.“
Ein Tandem für den Start in die Wirtschaft
Gründen möchte auch BWL-Studentin Francis Kordel. Sie und ihr Team wollen ein nachhaltiges Waschmittel aus Kastanien herstellen – und sie habe schon eine neue Idee, raunt die 25-Jährige ihrer Mentorin Karina Gebert zu, die neben ihr auf dem Campus in der Sonne sitzt. „Die Geschäftsideen sprudeln, ich freue mich“, kommentiert die selbstständige Kommunikationstrainerin. Im Februar 2020 führte das Programm „KarriereStartMentoring MV“ des Robert-Schmidt-Instituts die beiden Frauen zusammen, mittlerweile ist eine Freundschaft entstanden. „Alle zwei Wochen telefonieren wir und tauschen uns aus, mindestens eine Stunde lang“, berichtet Gebert.
Francis Kordel bewarb sich beim Mentoring-Programm, weil sie gründen wollte und Tipps suchte. „Super wäre es, jemanden zu haben, der beruflich da ist, wo ich hinmöchte“, erinnert sich die Masterstudentin. Die passende Mentorin fand Projektkoordinatorin Jana Thies. „Man entwickelt über die Jahre so ein Bauchgefühl“, sagt die 34-Jährige, die im ersten Mentoring-Jahr 2014 selbst Mentee war. Mittlerweile haben 93 Mentorinnen und Mentoren aus der Wirtschaft 126 Mentees betreut, in diesem Jahr sind es 22 Tandems. Das Programm richtet sich an Präsenz- und Fernstudentinnen aller drei Fakultäten. „Die meisten kommen aus dem Bereich Wirtschaft. In diesem Jahr sind viele Gestalterinnen vertreten“, so Thies.
Neben den Tandemtreffen besuchen die Mentees Workshops zu Karriereplanung, Konflikt- und Zeitmanagement und tauschen sich bei Netzwerktreffen aus. „Man trifft Frauen in einem ähnlichen Alter mit ähnlichen Problemen, denen man sonst nie begegnet“, sagt Francis Kordel. Hier lernen die Mentees, den eigenen Wert zu erkennen, sich selbst zu präsentieren und seine Stärken zu verkaufen.
Ich habe viel Fachliches mitgenommen, auch was Selbstständigkeit angeht.
Francis Kordel, BWL-Studentin und Mentee
Mutig sein habe sie im Mentoring gelernt, sagt die Studentin. Sich von einer Gründungsidee zu trennen und eine neue auszuprobieren sowie sich bei Ideenwettbewerben zu präsentieren. Auch Karina Gebert hat das Tandem bereichert. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig Mentoring in der eigenen Entwicklung ist. Mit Francis bleibt sie weiter in Kontakt: „Ich sehe, wie viele Ideen und Geschichten entstehen, das interessiert mich.“
Tanzen und feiern, wo andere studieren
Auf dem Wismarer Campus wird aber nicht nur studiert und gegründet. In den vergangenen Jahren feierten hier fast 7.000 Studierende und Einheimische mit Bands wie Culcha Candela, Bosse und Jennifer Rostock beim Campus Open Air. „In Wismar und Umgebung ist es eines der größten Festivals“, berichtet Projektleiterin Julia Heuer. Seit 2002 organisiert der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) zum Semesterstart im September das Campusfestival. „Es ist mehr gewachsen und ein Kultevent geworden“, erzählt Heuer. „Durch das breite Line-up sind Studierende, Einheimische und Musikbegeisterte von jung bis alt dabei“, so Julia Heuer.
Gewinnspiel
Wir verlosen Tickets für 2 Personen für das Campus Open Air in Wismar am 25. September 2021. Schreiben Sie uns eine E-Mail bis zum 9. Juli 2021 an info@mv-tut-gut.de, Stichwort: Verlosung
Nach der coronabedingten Pause 2020 will der AStA in diesem Jahr wieder durchstarten. Das Hygienekonzept ist ausgeklügelt, ein Testzentrum auf dem Campus geplant. „Wir haben jetzt so viele verschiedene Künstler wie nie zuvor“, sagt Heuer und nennt das DJ-Duo Vize, die erfolgreiche Wismarer Sängerin Mila und Rapper Kool Savas. Zwei Jahre ehrenamtliche Arbeit stecken in dem Festival und viel Herzblut: Das dreiköpfige Orga-Team hat unter anderem die Website neu gestaltet und ein elektronisches Ticketsystem eingeführt. Aktuell planen sie einen Podcast zum Festival. Was sie antreibt? „Wir wollen Wismar ein Stück besser machen und ein kulturelles Angebot für Jugendliche schaffen.“
So ist Wismar für junge Menschen nicht nur eine attraktive Stadt zum Lernen und Gründen, sondern auch zum Leben, Ankommen und Wurzeln schlagen.