„Wer hat Angst VorPommern?“ – das war die Frage, die die kleine Stadt Loitz bundesweit stellte und damit kreative Menschen auf sich aufmerksam machte, wie das Berliner Künstlerpaar Annika Hirsekorn und Rolando González. Für ein Jahr sind sie in ein leer stehendes Haus nach Loitz gezogen, um hier eine Begegnungsstätte für Jung und Alt einzurichten. Die Großstädter hatten mit ihren Ideen einen bundesweiten Wettbewerb der Stadt gewonnen. Und sie werden bleiben.
Beitrag von Anette Pröber
Die Hausfassade in der Greifswalder Straße 235a in Loitz schmücken bunte Wimpel und eine gelb-schwarze Werbetafel mit der Aufschrift „Zukunftswerkstatt“. In den Fenstern hängen Plakate, vor der Tür steht ein Aufsteller. Es ist Siebdrucktag bei „Annika und Ro“. Bei zwei Berliner Kunstschaffenden, die das alte Haus in der 4.500-Einwohner-Stadt an der Peene peu à peu aus dem Dornröschenschlaf erwecken.
Neun Grundschülerinnen und -schüler aus dem Hort „Sonnenblume“ wollen den Vormittag nutzen, um die Technik des Siebdrucks kennenzulernen und ihre mitgebrachten T-Shirts zu gestalten. „Das Angebot für einen spannenden Ferientag nehmen wir dankbar an“, erklärt Horterzieherin Diane Käding. „Da nicht alle Schulkinder mit den Eltern verreisen können, haben sie so die Möglichkeit, auch vor Ort erlebnisreiche Tage zu verbringen.“ Mit der im Juni 2021 eröffneten „Zukunftswerkstatt“ gäbe es einen Anlaufpunkt, um sich kreativ zu beschäftigen. Interessierte können bei Kunstworkshops mit Papier und Textilien arbeiten, Rollenspiele kennenlernen oder die umfangreiche Comicbibliothek entdecken.
Freiraum für Ideen
Den Weg nach Loitz fanden die Berliner Kuratorin Annika Hirsekorn (36) und der venezolanische Fotograf Rolando González (32), die sich einst in Mexiko-Stadt kennenlernten und im Stadtbezirk Friedrichshain ihren Lebensmittelpunkt fanden, über einen Bundeswettbewerb. Diesen gewannen sie. Ausgerüstet mit einem einjährigen Künstlerstipendium von jeweils 1.000 Euro pro Monat machten sie sich daran, ein renovierungsbedürftiges Haus im vorpommerschen Loitz mit ihren Ideen zu füllen und somit zur Belebung der strukturschwachen Region beizutragen. Das Basiseinkommen übernahm der Bund. „Ich kannte das Peenetal von Urlaubsreisen“, sagt die 36-jährige Annika Hirsekorn, die nach Kunst- und Politikstudium in der Hauptstadt vor allem Kunstausstellungen und soziokulturelle Veranstaltungen organisiert. „In Loitz gab es für uns die Chance, ein gemeinsames künstlerisches Projekt von Grund auf zu entwickeln. Das reizte uns beide.“
Ist es denn ausreichend warm? Die Frage von Annika Hirsekorn an die 8- bis 10-Jährigen wird bejaht. Ro hatte am frühen Morgen nicht nur den Ofen mit ausreichend Holz bestückt, sondern auch noch elektrische Heizkörper aufgestellt. „Das eigene Heizen war für uns sehr ungewohnt, jetzt haben wir uns daran gewöhnt“, erklärt Annika. Sie stellt den Kindern den französischen Siebdruckkünstler Tom Singnier vor, der extra aus Berlin gekommen ist, um den Workshop zu leiten. „Er ist ein Spezialist für diese Technik, bedruckt sogar Keramik und kann euch in die Geheimnisse der Kunst einführen.“
Die ersten drei Kinder streifen die Schürzen über und suchen sich passende Farben für den Textildruck aus. Tom Singnier erklärt das Prinzip des Siebdrucks, zeigt den Mädchen und Jungen, worauf es ankommt. Entscheidend sind die Farbmenge, gleichmäßiger Druck und die Sauberkeit beim Arbeiten. Das Sieb muss immer wieder gründlich gereinigt werden.
Wie zahlreiche andere Gebäude in Loitz stammt das Haus in der Greifswalder Straße aus dem Ende des 19. Jahrhunderts und wurde über Jahre nicht genutzt. Regionale Strukturprobleme löst man nicht über Nacht, betont Bürgermeisterin Christin Witt, die seit 2019 im Amt ist. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur den sanften Tourismus zu entwickeln, sondern den Stadtkern zu erhalten und attraktiver zu gestalten. Kleine Gewerbetreibende und Künstler sind darum herzlich eingeladen. Die bundesweite Ausschreibung für das alte Haus habe dazu beigetragen, die Peenestadt bekannter zu machen, sagt Christin Witt. Seit 2016 ist das Amt Peenetal/Loitz eine Modellregion im Wettbewerb Zukunftsstadt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Bund und Land unterstützten und unterstützen Ideen, lebenswerte Räume zu schaffen.
Eine Erfolgsgeschichte
Auf Wunsch ländlicher Bewohnerinnen und Bewohner sei beispielsweise der Rufbus ILSE für ältere, autofreie Menschen initiiert worden. Der Kleintransporter ILSE bringt seine Fahrgäste zu einer Wunschzeit an ihr Ziel. Kein endloses Warten an der Haltestelle, keine uneffektiven leeren Überlandbusse. Eine Erfolgsgeschichte, so Christin Witt. Ein besonderes Zukunftsprojekt entsteht derzeit mitten im Stadtzentrum. Gefördert wird der Bau eines Wohnkomplexes für verschiedene Generationen und Lebensmodelle, einschließlich medizinischer Versorgung. Die Genehmigungsverfahren sind „endlich bewältigt“, der Bauantrag für das Vorhaben wird in Kürze gestellt. Es gelang zudem, die Stadtwerke Loitz GmbH mit ins Boot zu holen. Beim Generationenhaus ist das Unternehmen zugleich Investor und Bauinstanz.
In der Zukunftswerkstatt rauscht ein Föhn. Die frischen Farben auf den T-Shirts werden getrocknet. Einige Kinder schauen sich mit Annika und Ro Comics an oder malen sie aus. „Das Gute an den Comics: Sie erschließen sich durch die Bilderfolge. So haben auch die Jüngsten, die noch nicht so gut lesen können, Spaß am Buch“, meint Annika Hirsekorn. Sie hat die Auswahl für die Bibliothek sorgfältig getroffen. Gute Comics seien wie Kinofilme – fantasiereich gestaltet, zu jeglichen Themen, auch zu aktuellen. Annika Hirsekorn will der neuen Generation überdies Geschichte nahebringen. „Auf neue Weise. Zeitzeugen des faschistischen Deutschlands zum Beispiel gibt es kaum noch.“ In Loitz, so sagt sie, stünden alte Baracken, in denen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden und für die Rüstungsindustrie arbeiten mussten. Vielleicht ein nächstes Projekt. Ro und Annika schauen sich an und lächeln. Morgen schon soll der Kaufvertrag für „ihr Haus“ in der Greifswalder Straße 235a beim Notar unterschrieben werden.
Annika Hirsekorn und Ronaldo González werden richtige Loitzer. Sie haben mit Gleichgesinnten den Verein „De Loite“ gegründet, um noch stärker zum Mitmachen zu bewegen, „… egal ob Leute, Lüt oder Loite“. Mit von der Partie ist auch der Filmemacher Jens Becker, Autor, Dramaturg und Regisseur, der an der Filmuniversität Babelsberg als Professor unterrichtet. Er hat ebenfalls kürzlich in Loitz sein „Traumhaus“ gefunden und will es ausbauen. Er hat im „KulturKonsum“ der Stadt die Kinoreihe „Mondscheinpalast“ auf die Beine gestellt und plant zudem, einen Drehbuchcampus Nordost zu etablieren.
Ein Dutzend Mitglieder zählt der Verein schon, der Gemeinschaft fördern will. Mit Kultur jeglicher Couleur, mit Spieleabenden, Workshops in der Kreativwerkstatt, Bootstouren auf der Peene und zahlreichen Projekten für Kids. Regelmäßig sind auch Künstlerresidenzen geplant. „Wir laden internationale Künstlerinnen und Künstler ein, bei uns zu arbeiten“, erklärt Ro. Dazu soll demnächst das Gästezimmer hergerichtet werden. Im Schuppen hinter dem Haus sägt ein Freund erste Türbohlen zurecht.