Bunte Giebel, Backsteinromantik, schmale Gassen, belebte Marktplätze, ringsherum Teiche und der Sund, ein Wasserarm, dessen Wellen Molenkopf und Strandbad sanft umspülen. Die Hansestadt Stralsund ist berühmt für ihre Altstadt. Im Jahr 2002 wurde sie von der UNESCO auf die Welterbeliste gesetzt. Noch heute kann man Häuser aus der Zeit der Stadtgründung im Jahr 1234 erkunden. Die Bauten auf der Altstadtinsel spiegeln den Reichtum und die Macht der Hanse wider.
Text von Janet Lindemann
Stralsund hat zugleich viel Moderne zu bieten: Neues Wahrzeichen ist die 2007 eingeweihte 4,1 Kilometer lange Überquerung des Strelasunds: die Rügenbrücke. Da viele Ur-Stralsunder mit der typisch norddeutschen Zurückhaltung auf die Welt gekommen sind, lohnt sich genaues Hinhören und Hinsehen.
In den Hallen von Ostseestaal werden Elektrofähren produziert. Und Fertigungssysteme für Windkraftanlagen. Und Passagierflugzeuge namhafter Hersteller sowie passgenaue Bauteile aus hochwertigen dreidimensionalen Edelstählen für alle großen deutschen Werften. „Wer sich nicht bewegt, wird abgehängt“, sagt Dr. Thomas Kühmstedt, Technischer Direktor bei Ostseestaal. So hat sich die Firma vom Werftenzulieferer zum Technologieführer in der 3D-Kaltverformung von Blechen aus Stahl, Edelstahl, Aluminium und Speziallegierungen wie Nickel 36 entwickelt.
Stralsund gefällt mir als Stadt zum Leben und zum Arbeiten mit Abstand am besten.
Thomas Kühmstedt
Stralsund als Stadt zum Leben
Thomas Kühmstedt ist ein Mann „von der Werft“. Er hat in Stralsund Schiffbau gelernt, in Rostock studiert, Forschungsprojekte weltweit geleitet und auf verschiedenen Werften – unter anderem in Philadelphia – gearbeitet. 2010 übernahm er die Geschäftsführung bei der Firma Ostseestaal. Heute kümmert er sich als Technischer Direktor um die Geschäftsentwicklung des Unternehmens. Seine Aufgabe ist es, langfristig strategisch vorauszuschauen. Ein breites Geschäftsfeld sei wichtig, kreative Lösungsansätze und ein globales Marketing. Dafür arbeite er manchmal bis zu zwölf Stunden täglich und sei weltweit auf Messen und Märkten unterwegs.
„Stralsund gefällt mir als Stadt zum Leben und zum Arbeiten mit Abstand am besten“, verrät Thomas Kühmstedt. Er schätzt die kurzen Wege in der Stadt, das gemeinsame Frühstück mit der Familie am Morgen, die täglichen Fahrten mit dem Rad zur Arbeit – vorbei an den Backsteinbauten und dem Wasser. Inspiration für neue Projekte findet der 55-jährige Stralsunder beim Segeln. Von seinem Schiff aus kann er auf ein Bauwerk blicken, dessen markantes Aussehen die Firma Ostseestaal mitgeprägt hat: das Ozeaneum. Für das zur Stiftung Deutsches Meeresmuseum gehörende und mit dem Preis „Europas Museum des Jahres 2010“ ausgezeichnete Museum auf der Hafeninsel hat das Unternehmen die weißen Stahlbleche für die Außenfassade geformt.
„Die Arbeit auf der Werft hat mich nach Stralsund gezogen“ - Drei Fragen an Thomas Kühmstedt
Die Ostsee vor der Tür
Die Stralsunder lieben ihre Stadt und tragen ihre Liebe auch nach außen, wenn sie nach dem Woher und Wohin gefragt werden. „Durch einen gebürtigen Stralsunder, der im Rheinland lebte, habe ich von dieser Stadt erfahren“, erinnert sich Susanna Masson von der gleichnamigen Fiberglasmöbel GmbH. „Er hat geschwärmt, wie schön es dort sei, die Ostsee vor der Tür. Und er behielt recht. Stralsund ist völlig anders als andere Städte, die ich kenne. Stralsund ist für mich wie eine Familie. Wer da ankommt, ist zu Hause“, schwärmt die Unternehmerin.
Und so hat sie nach der politischen Wende ihren Wohnsitz vom Rheinland nach Vorpommern verlegt. Mit viel Kreativität, Mut und eisernem Willen ist es ihr gelungen, in Wendorf bei Stralsund ein gut funktionierendes Geschäftsmodell aufzubauen: Aus Fiberglas, das unter anderem als Werkstoff im Schiffbau verwendet wird, fertigt sie in ihrer Manufaktur wetterfeste Gartenmöbel und Dekorationen. Auf das Herstellungsverfahren hat sie das Patent. Mittlerweile sind ihre Werke weltweit gefragt. In der kalten Jahreszeit blieben Spaziergänger an ihren fünf Siebenmetersternen in der Stadt stehen. Die liefert sie mittlerweile in mehr als 40 Länder.
Beim Waldspaziergang mit Labrador Franz kommen Susanna Masson die besten Ideen. „Und wenn sie erfolgreich umgesetzt sind, geben sie Kraft“, schmunzelt die temperamentvolle Unternehmerin.
Eines der meistbesuchten Museen Deutschlands
Kraft in der Natur findet auch Andreas Tanschus – zum Beispiel beim Fliegenfischen in den heimischen Gewässern. Seit 30 Jahren ist er für das Deutsche Meeresmuseum tätig. Im Jahr 2019 ist er vom Kaufmännischen Direktor an die Spitze geklettert. „Es ist ein sehr großes Glück, maßgeblich an der Entwicklung des Museums mitwirken zu dürfen.“ Mittlerweile verfügt das Deutsche Meeresmuseum über vier Standorte: das Meeresmuseum im Katharinenkloster, das Ozeaneum auf der Hafeninsel, das Nautineum auf dem Dänholm und das Natureum am Leuchtturm Darßer Ort. Das Meeresmuseum gehört mit rund 800.000 Besuchern jährlich zu den meistbesuchten Museen Deutschlands.
Von seinem Bürofenster aus schaut Andreas Tanschus nicht nur auf das lebensgroße Skelett eines Wals in einer beleuchteten Vitrine an der Stadtmauer, sondern auch auf eine Großbaustelle. Bis 2023 soll das Meeresmuseum umgebaut werden – nach fast einem halben Jahrhundert. Geplant sind unter anderem originalgroße Installationen von Meerestieren und ein Großaquarium mit Riff.
Andreas Tanschus selbst kennt das Museum noch aus seinen Kindertagen. Als gebürtiger Stralsunder hat er selbst oft im historischen Gewölbekeller in das Meer geschaut. Umso glücklicher ist er heute, hier aktiv mitgestalten zu dürfen. „Ich habe immer versucht, das Museum schöner und besser zu machen“, erzählt der Ingenieurwissenschaftler. Hier wird gesammelt, bewahrt, geforscht. Die gemeinnützige Forschungsstiftung Ostsee beschäftigt sich mit den Auswirkungen menschlicher Eingriffe in die Ostsee. Im Ozeaneum ist die größte Ostseeausstellung in ganz Europa mit einer 200-fach vergrößerten „Planktonwolke“ zu sehen. Besucher sollen für das Thema Umwelt und Meer sensibilisiert und zu einem achtsamen Umgang mit allen Lebensformen angeregt werden.
Beliebt bei Studenten weltweit
Das Ziel, nachkommenden Generationen ein lebenswertes Umfeld zu hinterlassen, verfolgt auch Prof. Johannes Gulden. Erstmals ist an der Hochschule Stralsund unter seiner Leitung die direkte Produktion von Methanol aus Wasserstoff (H₂) und Kohlendioxid (CO₂) mit der hauseigenen Methanol Synthese Anlage gelungen.
Der Studiengang Regenerative Energien mit dem Fokus Elektrotechnik ist bei Studenten aus aller Welt beliebt. „Die Hochschule genießt einen sehr guten Ruf“, weiß Johannes Gulden. Auch die hervorragende Lage am Meer spiele eine sehr große Rolle. „Viele Studenten gehen in ihrer Freizeit segeln oder surfen. Einige kennen die Region vom Urlaub.“
Johannes Gulden kennt als waschechter Stralsunder die Vorzüge seiner Heimatstadt. Nach seinem Physik-Studium in Rostock und seiner Promotion in Hamburg kehrte er an den Ort zurück, an dem er heute mit seinen Kollegen die Energien der Zukunft entwickelt. Zum Beispiel „flüssigen Strom“, aber auch wasserstoffbetriebene Rennwagen. Im Jahr 2019 hat das studentische Racing Team den bedeutendsten Titel des Shell Eco-Marathons in London eingefahren. Das ist einer der weltweit größten Effizienzwettbewerbe rund um Mobilität.
Die Hochschule genießt einen sehr guten Ruf.
Johannes Gulden
Stralsund und seine kreativen Köpfe
Ein Macher, der ebenfalls an der Hochschule Stralsund studiert hat, ist Oscar Schröder. Nach seinem Studium zum Wirtschaftsingenieur zog es ihn in die Welt. So hat er unter anderem im IT-Bereich in der Schweiz gearbeitet. Nach mehr als zehn Umzügen ging der 34-Jährige in seine Heimatstadt zurück.
Er ist Mitbegründer der Orangery, eines jungen Unternehmens am Querkanal, das kreative Köpfe miteinander vernetzen und Start-ups zum Erfolg verhelfen möchte. Die Geschäftsräume befinden sich in maritimer Umgebung. Segelboote, Brücken, Backsteinbauten und Speichergebäude bilden eine malerische Kulisse. Möwen recken ihre Köpfe der Sonne entgegen. Schließlich hat die 800 Quadratmeter umfassende Orangery ihren Sitz auf Stralsunds größter Terrasse. „Austausch mit Meerwert“ nennt der Managing Director einen der Vorteile, seinen Anker in einen der lichtgefluteten Meetingräume oder in ein Einzelbüro zu werfen – schnelles Internet, Frühstück und Regenschirm inklusive. Denn die raschen Wetterwechsel an der Küste sind längst kein Geheimnis mehr.
Stralsund bietet uns eine sehr hohe Lebensqualität.
Oscar Schröder
Oscar Schröder macht in der Orangery möglich, was in Großstädten seit Jahren erfolgreich praktiziert wird. So möchte er zukunftsweisend die Entwicklung der Region voranbringen, gemeinsam mit vielen klugen Köpfen nachhaltige Geschäftsmodelle entwickeln und zum Bleiben bewegen: „Stralsund bietet uns eine sehr hohe Lebensqualität.“
Ein Haus mit Geschichte
So manch eine Idee ist in einer lockeren Runde am Tisch einer Hafenkneipe entstanden. Das weiß auch Stralsunds bekannteste Kneipenwirtin Hannelore Höpner. Die gebürtige Sachsen-Anhaltinerin hat im Jahr 1976 Kurs auf Stralsund genommen und ist geblieben. Seitdem brennt sie für die Stadt und die Menschen, die hier leben.
Seit 1999 ist sie Chefin der ältesten Hafenkneipe Europas. Die befindet sich in einem 60 Meter von der Hafenkante entfernten jahrhundertealten Haus mit Geschichte und Geschichten. 1332 soll in der „Fähre“ das erste Mal Bier ausgeschenkt worden sein. In ihrem Wohnzimmer, wie sie ihren Gastraum nennt, treffen Touristen auf Geschäftsleute der Stadt, Segler auf Landratten – und über allem liegt der Duft nach frisch gezapftem Stralsunder, Zigarettenqualm und Parfum. An den Wänden hängen Bilder mit alten Stadtansichten und maritimer Schnickschnack. Von der Decke baumelt ein Segel.
Die von allen Hanni genannte Wirtin sieht auf den ersten Blick, wer zu wem an den Tisch passt. „Den Rest müssen die klären“, strahlt die rothaarige Kneipenchefin. Schon so manches Geschäft wurde am Stammtisch mit einem Bier besiegelt – und später umgesetzt. „Was ich an Stralsund liebe? Dass es hier sehr viele Menschen gibt, die etwas bewegen und sich für den Erhalt von historischer Bausubstanz einsetzen. Die Archive sind voller Geschichten über die Bauten unserer Stadt. Testamente wollen gelesen werden. Alte Häuser haben Seele. Stralsund auch.“