Die Region zwischen Schwerin und Hamburg ist durch das UNESCO-Biosphärenreservat Schaalsee mit seinen Seen, Wäldern und zahlreichen Kulturlandschaften geprägt. Die alten Residenzstädte Ludwigslust und Schwerin locken mit ihren historischen Bauten Touristen aus aller Welt. In den vergangenen 30 Jahren entwickelten sich in Westmecklenburg zudem Wirtschaftscluster – innovativ, modern und digital.
Text: Anette Pröber
Seeadler, Eisvögel und andere seltene Vogelarten lassen sich am Schaalsee zahlreich beobachten. Der 24 km² große See, der durch seine Lage im ehemaligen Grenzgebiet zwischen den deutschen Staaten sehr naturbelassen geblieben ist, bietet Idylle pur. Er ist mit 72 Metern der tiefste Klarwassersee Deutschlands und bildet heute den Mittelpunkt des 310 km² großen UNESCO-Biosphärenreservates Schaalsee. Buchen- und Bruchwälder, Moore, zahlreiche Seen und Kleingewässer, aber auch kulturabhängige Ökosysteme wie Weideland, Feuchtwiesen und Äcker prägen die abwechslungsreiche Kulturlandschaft. Seit Ausweisung des Biosphärenreservates im Jahr 2000 wurden mehr als 1.500 ha Moorfläche und mehrere Seen und Fließgewässer renaturiert sowie mehr als 70 Kleingewässer saniert oder neu angelegt.
Zur Bewahrung der Natur haben die Einheimischen in der Schaalsee-Region spezielle touristische Angebote geschaffen, von umweltfreundlichen Ferienunterkünften über Fahrrad- und Bootsverleihstationen, geführte Ranger-Touren bis hin zum Direktvermarkterhof.
In guter Nachbarschaft finden sich architektonische Highlights, die historisch wertvollen Schlösser und Herrenhäuser der Residenzstädte Ludwigslust und Schwerin und die Kirchen und Backsteinbauten der UNESCO-Welterbestadt Wismar. Wenn in den alten Gemäuern und Schlossparks die klassische Musik Raum gewinnt, sind selbst kulturaffine Großstädterinnen und Großstädter begeistert. Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern zählen zahlreiche Besucherinnen und Besucher aus Hamburg und Schleswig-Holstein zu ihren ständigen Gästen.
Gallin – die „Welthauptstadt der Vanille“
Nils Bohla, Geschäftsführer der Wollenhaupt Vanille GmbH, pendelt nahezu täglich zwischen Hamburg und Gallin, der 580-Einwohner-Gemeinde im Landkreis Ludwigslust-Parchim. Das traditionsreiche Hamburger Familienunternehmen Wollenhaupt, seit 140 Jahren im Handel mit Tee und Vanille, ist mit seinem Vanillegeschäft in Gallin ansässig geworden. Seit Mai 2022 kommen sämtliche Produkte und Dienstleistungen rund um die Naturvanille aus dem Businesspark Valluhn/Gallin. „Unser wachsendes Unternehmen brauchte mehr und bezahlbare Fläche. Am Standort in Reinbek war alles zu eng geworden“, erzählt der Geschäftsführer, der seit 25 Jahren im Management bei Wollenhaupt arbeitet.
In der Landeshauptstadt Schwerin habe er für das Investitionsvorhaben von Anfang an großes Entgegenkommen gespürt. Es entstanden auf 3,3 Hektar Gewerbefläche moderne Produktions- und Verwaltungsgebäude, die großzügige Labor- und Forschungsmöglichkeiten einschließen. Die 55 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Belegschaft, die überwiegend aus Hamburg kommen, fahren mit Shuttlebussen bzw. E-Autos, deren Ladung das Unternehmen übernimmt. Den Strom dafür produziert das Vanillewerk aus erneuerbaren Energiequellen.
„Schauen Sie sich um, in Gallin entsteht die Welthauptstadt der Vanille“, gibt sich der Manager visionär. Der Traum kommt nicht von ungefähr, denn das Unternehmen Wollenhaupt gehört zu den Weltmarktführern im Vanillegeschäft. Entsprechend den Wünschen der Kundinnen und Kunden wird die Vanilleschote in einem Glas konserviert sowie weiter zu Pulver, Pasten und Extrakten verarbeitet. Industriekunden kaufen hier die Rohware jeglicher Qualitäten und Ursprünge zur eigenen Weiterverarbeitung. Vanille mit Bio- und Nachhaltigkeitszertifizierung wird ebenfalls angeboten. „Unsere Kundinnen und Kunden schätzen die hohe Qualität unserer Ware und die langjährige Erfahrung mit dem sensiblen Produkt“, erklärt Nils Bohla. Vanille sei eines der beliebtesten, aber auch teuersten Gewürze der Welt und ihr aromatischer Geruch erfüllt das Werkgelände in Gallin.
Produktion von Algen wird in Neustadt-Glewe industrialisiert
Im Ostteil der Metropolregion Hamburg haben sich unweit von Schwerin zahlreiche Firmen niedergelassen, darunter Logistikfirmen, Unternehmen der Bio-, Medizin-, Energie- und Umwelttechnik. Sie alle setzen auf die gut ausgebaute Infrastruktur der Region. Diese ermöglicht sogar eine Algenproduktionsanlage abseits des Meeres im mecklenburgischen Neustadt-Glewe.
Die Dr. Eberhard Bioenergie GmbH & Co. KG investierte in einem ehemaligen Gärtnerei-Großgewächshaus in acht lange Wasserbecken, in denen seit circa drei Jahren Spirulina-Algen wachsen und gedeihen. „Für mich sind es die Spiralen des Lebens“, sagt Betriebsleiter Wladimir Brehm und zeigt auf die großen und kleinen Spiralen, die sich unter dem Mikroskop gut erkennen lassen. „Die nährstoffhaltigen Algen werden für die globale Ernährung der Menschheit an Bedeutung gewinnen“, erklärt Brehm. Derzeit gelten sie als Trendfood, werden in der Lebensmittelindustrie verarbeitet, aber auch für medizinische oder kosmetische Produkte genutzt. In Neustadt-Glewe vollziehe man gerade den Schritt vom Pilotprojekt zur industriellen Produktion. „Dazu brauchen wir einen guten Algenstamm und möglichst gleich gute Bedingungen über das ganz Jahr“, betont Brehm.
Er testet zurzeit verschiedenste Biodünger für die Fütterung der Algen. Außerdem wird untersucht, ob die rosafarbene Beleuchtung der Becken positive Auswirkungen auf die Fotosynthese zeigt. „Viel brauchen die Algen nicht“, erklärt der junge Betriebsleiter. Das beweisen sie seit Jahrmillionen in den Ozeanen: Licht, Kohlendioxid und Nährstoffe wie Stickstoff und Phosphor. „Sie müssen sich bei uns wohlfühlen“, unterstreicht Janine Bülow, die seit zwei Jahren auf der Farm arbeitet und ihren abwechslungsreichen Job liebt.
Große Schaufelräder halten das 25 bis 27 Grad warme Algen-Wasser in den Becken ständig in Bewegung. Die Energie für das tropische Klima im Gewächshaus wird aus Erdwärme und Photovoltaikanlagen gedeckt. Ein bis zweimal in der Woche werden die Algen geerntet, als spinatähnliches „Slurry“ abgefischt und in Zentrifugen, Pressen und Trocknern weiterverarbeitet, bis sie in festem Zustand in Behälter abgefüllt werden können. Eine Tonne Algen wurde bislang in diesem Jahr geerntet. Fünf Tonnen sollen es 2023 sein.
Neue „Musik“ im alten Schweriner Klavierwerk durch das DIZ
In der Landeshauptstadt Schwerin, mitten im Zentrum, in der Wismarschen Straße 144, ist das Digitale Innovationszentrum (DIZ) der Stadt zu Hause. In dem denkmalgeschützten Gebäude von 1905, das einst ein Klavierwerk mit großem Konzertsaal beherbergte, ist jetzt Start-up-Flair zu spüren. Kreative Menschen unterschiedlichsten Alters und Ausbildung erhalten Raum, um sich auszuprobieren und ihre Ideen umzusetzen. „Wir haben zahlreiche Feierabendgründerinnen, die sich mit viel Engagement beruflich neu orientieren“, erzählt Mascha Thomas-Riekoff. Die 43-jährige Kulturwissenschaftlerin hat im DIZ den Hut auf. Unterstützt wird sie von Frida Hoth, die vor allem Gründende berät und diesen bei der Entwicklung ihres Geschäftsmodelles zur Seite steht. Mascha Thomas-Riekoff und Frida Hoth sehen sich als „Netzwerkerinnen“, die Denkanstöße geben wollen, um Neues in der Stadt auf den Weg zu bringen.
In den vergangenen Monaten sind zahlreiche Veranstaltungsformate neu ins Leben gerufen worden. Darunter die „Nacht des Wissens“, um jungen Leuten innovative und zukunftsfähige Berufe vorzustellen. Zu den neueren Formaten gehört auch der „Runde Tisch“, an dem Expertinnen und Experten unterschiedlicher Couleur divers über ein Thema diskutieren. Erfolgreich startete in diesem Jahr auch das erste Coworking-Festival MV, das vom DIZ mitorganisiert war. Es gestattete spannende Einblicke in moderne hybride Arbeitswelten, die auch in Mecklenburg-Vorpommern Fuß gefasst haben. „Mit dem großen Interesse hatten wir nicht gerechnet“, sagt Mascha Thomas-Riekoff. Im April 2023 wird es bereits eine Fortsetzung geben.
110 Unternehmen im Technologie- und Gewerbezentrum Schwerin/Wismar
Beste Bedingungen nahe dem Schweriner See und unmittelbar an der Ostseeküste finden Start-ups im Technologie- und Gewerbezentrum e.V. Schwerin/Wismar (TGZ). Es wurde 1990 gegründet und bietet an seinen beiden Standorten 110 Unternehmen auf 23.000 Quadratmetern attraktive Büro-, Labor- und Produktionsflächen.
Mit der Trebing & Himstedt Prozessautomation GmbH & Co. KG feierte in diesem Jahr eine der erfolgreichsten Ausgründungen aus dem TGZ ihr 30-jähriges Jubiläum. „Unsere Software steckt heute hinter vielfältigen Produkten, ob Duschbad, Teebeutel oder Motorrad-Crossmaschine“, erzählt Steffen Himstedt (55) gern jungen Gründerinnen und Gründern. Gleich nach seinem Ingenieurstudium hatte er mit einem Kommilitonen im Schweriner TGZ begonnen, an Software-Entwicklungen zu arbeiten. „In einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit groß war, glaubten nicht viele Menschen an unseren Erfolg. Doch wir hatten die Gründer-DNA und setzten uns gegen Widerstände durch. Rückschläge inklusive“, blickt Himstedt zurück. Rund acht Jahre später waren die Ingenieure mit ihrer Firma dem TGZ entwachsen, bauten ganz in der Nähe eine eigene Firmenzentrale.
Heute setzen renommierte Unternehmen wie Beiersdorf, Roche Diagnostics, Audi, Continental und Festo auf das Know-how der IT-Spezialisten. Jungen Menschen Mut zu machen, ist Steffen Himstedt wichtig. So sprach er in diesem Jahr die Laudatio für die Preisträger des INNO AWARD 2022. Der begehrte Innovationspreis der Technologieparks in MV ging an die Wissenschaftler Dr. Dirk Hollmann und Stefan Peuß von „Cell2Green“. Sie haben eine kompostierbare, recycelbare Biofolie aus nachwachsenden pflanzlichen Rohstoffen wie Holz und Stroh entwickelt. Wie Himstedt wollen sie nichts weniger als den Fortschritt „revolutionieren“ und die Erde ein Stück besser machen. Ohne Plastikmüll im schönen Westmecklenburg und im Rest der Welt.