Anklam in Vorpommern hat den Mut gehabt, sich Zeit zu nehmen, um richtig in die Zukunft aufzubrechen, sagt die Stadtplanerin Susann Milatz. Im ruhigen Hinterland der Ostseeküste bietet die kleine Hansestadt moderne Betriebe und ein vielfältiges Kulturleben. Zu Anklams Zukunft gehört auch seine Geschichte. Der Flugpionier Otto Lilienthal wurde hier geboren.
Text von Andreas Frost
Voller Enthusiasmus erzählt Peter Busse von der neuen Turmspitze der Anklamer Nikolaikirche. Knapp 110 Meter hoch soll sie werden, aus Holz und Glas und vielen Luken. Wer die Treppen erklimmt, kann Wind und Wetter spüren und über das weite flache Land bis zur Ostsee schauen und erahnen, wohin der Flugpionier Otto Lilienthal hätte schweben können. Lilienthal, der berühmteste Sohn der kleinen Hansestadt in Vorpommern, wurde in dieser Kirche getauft. Er baute 1891 den „Derwitzer Apparat“, mit dem sich erstmals Gleitflüge steuern und wiederholen ließen. Peter Busse ist Direktor des beschaulichen Lilienthal-Museums in Anklam. In einigen Jahren soll es als „Ikareum“ in die einst im Krieg zerstörte Nikolaikirche umziehen. Dort will Peter Busse die Besucher in die Sphären Lilienthals mitnehmen und all jener, die vor ihm den Traum vom Fliegen verwirklichen wollten. In der wieder aufgebauten Kirche ist genug Platz, die aus Weidenholz und Leinwand nachgebauten Gleiter Lilienthals zu präsentieren. Originale sind weltweit nur wenige erhalten. Nachdem Otto Lilienthal bei einem Flugversuch 1896 tödlich verunglückte, ließ sein Bruder Gustav alle Gerätschaften verbrennen, berichtet Peter Busse.
Wenn Peter Busse über Lilienthal erzählt, springt seine Begeisterung schnell über. Lilienthal sei der erste Flugpionier, der sich die Grundlagen der Aerodynamik und Flugmechanik systematisch – sowohl theoretisch wie auch experimentell – erarbeitet habe. „Außerdem war er ein kluger Beobachter, er hatte Mut und er wollte technischen mit sozialem Fortschritt verbinden.“ Vielseitig war Lilienthal allemal. Er konzipierte eine Dampfmaschine und entwickelte zusammen mit Gustav einen Bauspielkasten. Peter Busse hat Maschinenbau studiert und an Stahltriebwerken geforscht, bevor er in seine Heimatstadt zurückkehrte, um das Museum zu leiten. „Ich mag den Menschenschlag hier“, erzählt er. „Und Anklam hat sich inzwischen herausgeputzt. Das hat es leicht gemacht, wieder in der Heimat anzukommen.“
Anklam in Vorpommern ist direkt am weitgehend naturbelassenen Urstromtal der Peene gelegen. 13.000 Menschen leben hier im etwas ruhigeren Hinterland der Ostsee mit ihren quirligen Seebädern. Bürgermeister Michael Galander steht auf dem Balkon seines Dienstzimmers und schaut zufrieden auf das Treiben auf dem breiten Marktplatz vor seinem Rathaus, auf die spitzen Giebel und verspielten Fassaden. Was historisch anmutet, ist nur wenige Jahre alt. Lange Zeit säumten DDR-Plattenbauten das Zentrum Anklams. Die Stadt wagte den Umbau und der Flair der alten, einst reichen Hanse- und Kaufmannsstadt hat wieder mehr Platz.
Michael Galander kam vor 30 Jahren als Unternehmer nach Anklam. Seit knapp 20 Jahren ist er Bürgermeister, so lange wie kaum ein anderer seiner Amtsvorgänger in den vergangenen drei Jahrhunderten. Die Erneuerung Anklams ist nicht abgeschlossen. Galander verweist auf die Baustellen des Sterne-Hotels, der neuen Schule, der Nikolaikirche, die das „Ikareum“ aufnehmen wird. „Wir wollen als Touristenort wahrgenommen werden“, sagt Galander. Auch wirtschaftlich ist die Stadt längst breiter aufgestellt. Wo einst die Zuckerfabrik dominierte, siedeln sich immer mehr Unternehmen aus dem Bereich der Bio-Ökonomie an.
Mirko Bröcker ist Geschäftsführer eines dieser „grünen“ Unternehmen, die Anklams wirtschaftliches Fundament erweitert haben. Efeu, Eibisch und Artischocke, Purpursonnenhut, Passionsblume und Primel gehören zu den Rohstoffen bei Anklam Extrakt. Auch aus den Blättern, Blüten, Beeren und Wurzeln vieler anderer Pflanzen stellt das Unternehmen Extrakte für die Pharma- und die Lebensmittelbranche her. Die zerkleinerten Pflanzenteile werden in modernen Anlagen mit Wasser oder Ethanol versetzt und erhitzt. „Heraus kommt ein dünner Saft oder Tee, den wir auf 65 Prozent Trockensubstanz eindampfen“, erläutert Mirko Bröcker. Nach einem weiteren Trocknungsprozess bleibt in der Regel ein Pulver übrig.
Die Anwendungspalette ist breit gefächert. „Artischocken-Extrakt hilft zum Beispiel, den Leberstoffwechsel zu unterstützen, Kakao-Extrakt sorgt in Tabakprodukten für einen gleichbleibenden Geschmack“, erläutert Mirko Bröcker. Anklam Extrakt hat auch einen Immun-Booster produziert, der unter anderem Holunderbeere, Sanddorn und Melisse enthält – in Corona-Zeiten ein häufig nachgefragtes Produkt, so Mirko Bröcker. Mehr als 60 Prozent der Extrakte werden von Anklam aus exportiert, ins europäische Ausland, nach Nord- und Südamerika, Asien und Afrika. Wenn Anklam Extrakt weiter wächst, gibt es in Anklam günstige Flächen für eine Erweiterung.
Rund 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt das Unternehmen, darunter viele Fachkräfte aus den Bereichen Biologie, Biochemie, Lebensmittel- und Anlagentechnologie. Einige sind in den vergangenen Jahren nach Anklam gezogen, etwa aus Bayern, wie Mirko Bröcker berichtet. „Wir haben hier spannende Aufgaben für sie, zum Beispiel in der Forschung. Und wir geben auch jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Verantwortung.“ Gewiss sei Anklam, räumt Mirko Bröcker ein, keine Großstadt. Dafür biete sie viel Natur drumherum, die Chance auf ein preiswertes eigenes Heim und ein vielfältiges Vereinsleben.
Anika Laß hat gerade mit ihren Elevinnen und Eleven die Nacht für die Premiere geprobt. „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ von Peter Handke. „Es ist ein Stück ohne Text. Nur Bewegung und Laute“, erläutert die Dozentin der Theaterakademie Vorpommern. Anika Laß will ihre Leidenschaft für den Tanz weitergeben. Denn sie tanzte schon, bevor sie in die Schule kam, im Anklamer Fritz-Reuter-Ensemble. „Folkloretänze und Akrobatik – das hat mir großen Spaß gemacht.“ Inzwischen trainiert sie in ihrer Freizeit selbst Mädchen und Jungen des Ensembles.
Hauptberuflich aber prägt sie seit 15 Jahren mit ihren Choreografien die Vorpommersche Landesbühne. Das Theater bespielt von Anklam aus mehrere Spielstätten entlang Vorpommerns Ostseeküste. Hier sorgte Frank Castorf für Furore, bevor er 1992 für viele Jahre die Leitung des Berliner Ensembles übernahm. An diesem Theater hat der Regisseur Andreas Dresen, bekannt für seine Filme „Halbe Treppe“ oder „Gundermann“, einen seiner ersten Filme gedreht.
Auch als Schauspielerin steht Anika Laß auf der Bühne, etwa bei den Festspielen um die sagenumwobene und in der Ostsee versunkene Stadt Vineta. Mal als Findling, mal als Habenichts, mal als Elfenkriegerin. Als Antje Schulze ist sie seit 2006 bei „Die Peene brennt“ dabei. Das Spektakel wird jedes Jahr im Spätsommer vor allem auf dem Fluss inszeniert. „Feuer und Schlachten, Tanz und Musik“, sagt Anika Laß, „darauf warten hier die Leute.“ Meist geht es um historische Legenden und aktuelle Anspielungen auf Anklam und die Region.
Kulturell habe die kleine Stadt auch neben dem Theater manches zu bieten, sagt die Choreografin, zum Beispiel den Knabenchor und die Rollschuhsportler, die Fußballer und den Karnevalsverein. „Außerdem“, so findet sie, „ist aus Anklam in den vergangenen Jahren viel geworden. Ich sehe, wie bezaubernd die Stadt doch sein kann!“
Susann Milatz erzählt, sie habe bereits „als Kind Peenewasser im Gesicht gehabt“. Die Architektin und Stadtplanerin mit Sitz im nahen Neubrandenburg ist in Anklam aufgewachsen. Sie ist eine von vier Planerinnen, die 2020 die Ausschreibung für den „Masterplan“ gewonnen haben, mit dem die Weichen für die Entwicklung der Stadt gestellt werden. Sie hat die Ideen vieler Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt, mit Vereinen und Unternehmen gesprochen. Sie stieß auf viel Optimismus und Stolz auf das Erreichte. „Ich habe die tolle Aufgabe, eine Vision zusammentragen zu dürfen“, freut sich Susann Milatz, „und die Anklamer sind offenbar bereit mitzumachen.“
Die Stadt habe den Mut gehabt, sich Zeit zu nehmen, nicht gleich nach der Wiedervereinigung überstürzt mit dem Stadtumbau anzufangen. „Nun hat sie die nächste Chance: das Potenzial der Peene zu nutzen, das der Stadt zu Füßen liegt.“ Milatz setzt darauf, dass sich Anklam dem Tourismus zuwendet. Wo einst Handel und Verkehr dominierten, schweben Susann Milatz mitten in der Stadt ein Sportboothafen und eine Promenade vor, wo Einheimische und Touristen flanieren können. Flussabwärts könnten in einer neuen Lagune Segler anlegen und während ihres Ostsee-Turns in Tiny Houses ausspannen. Das kleine Viertel am gegenüberliegenden Peene-Ufer, wo einst die Grenze zwischen Pommern und Schweden verlief, würde sie am liebsten mit nordischem Flair beleben, mit einer Markthalle, einer Fahrradwerkstatt, mit kleinen Unterkünften für Paddler. Wie mit einem Baukasten Otto Lilienthals könnte der Masterplan Stück für Stück verwirklicht werden. Als Schulkind ist Susann Milatz täglich an der Ruine der Nikolaikirche vorbeigekommen. Nun soll sie als „Ikareum“ zum Aushängeschild der Stadt werden. „Da sehen Sie, wie Visionen wirken.“